Ein Rest von Rock 'n' Roll
Auf der diesjährigen Kölner Popkomm wird viel über das neue Copyright geredet werden: freier Datenfluss - oder völlige Kontrolle des Internets durch die Musikindustrie. Das Ende der digitalen Anarchie kommt in Sicht
Von Thomas Gross
Wie lang die Neunziger schon wieder her sind! Das Technojahrzehnt mit seinen neuartigen Räuschen und Geräuschen, Vorausklang wie Begleitsound globaler Vernetzung. Das Jahrzehnt, in dem das Internet zum Massenmedium wurde, beseelt von einem nachgerade kindlichen Glauben ans Elektronische. Angesichts einer ansonsten parzellierten und entzauberten Welt verhieß der Cyberspace den letzten Ort der unbegrenzten Möglichkeiten, ein digitales Utopia, das Visionäre wie Abenteurer gleichermaßen anzog: Freibeuter, Hacker, Bastler und Dotcommunisten auf der einen Seite, auf der anderen Datenbarone, Developer, kommerzielle Nutzer aller Art, vom Großkonzern bis hinunter zum kleinsten Start-up. Heute, nach dem Zusammenbruch des Neuen Marktes, bei schwindendem Kultstatus der Love Parade und allgemein gedämpfter Neigung zum Spekulativen, taugt auch das Internet nicht mehr für die ganz großen Erzählungen. Die Rhetorik hat sich abgekühlt, die Medienforscher diagnostizieren ein Ende des mythischen Zeitalters: Man ist nicht mehr Utopist, sondern bloß noch User, der die Features des Cyberspace - im Wesentlichen E-Mail, Online-Shopping, Tele-Banking - pragmatisch zu nutzen versteht. Niemand muss dafür mehr in die abstrakten Tiefen des Digitalen blicken, wo Quellcodes und andere Zeichenungeheuer lauern, bequem klickt es sich durch ein Paralleluniversum, das ganz Benutzeroberfläche geworden ist und mal an ein Kaufhaus, mal an einen Musiksender, eine Peep-Show oder auch eine elektronische Illustrierte erinnert.
Das Ende der Cyber-Pioniere
Und doch herrscht kein dauerhafter digitaler Friede. Immer noch, ja mehr und mehr finden die Buchhalter, die für die Pioniere und Landnehmer nachgerückt sind, rechtsfreie Räume vor, in denen "virtuelle Gemeinschaften" (Howard Rheingold) unter hochmedialen Bedingungen einer Art Tauschwirtschaft nachgehen. Komprimierte MP3-Files kreisen körperlos und ohne Qualitätsverlust um den Globus, enthalten Musik, Text oder Bilder, werden privat heruntergeladen, auf CDs gebrannt und auf Schulhöfen weiterverteilt. Für jede geschlossene Internet-Börse schießt ein Dutzend anderer empor, von Software, die gemeinschaftlich und ohne Bezahlung weiterentwickelt wird, alternativen Newsportalen und freiwillig ins Netz gestellter Information ganz zu schweigen. Solange aber Dateien kostenlos zirkulieren, bleibt die Durchsetzung des Kapitalismus im Netz unvollendet.
Verständlich, dass dies die kränkelnde Musikindustrie alarmiert. Wenn am 15. August zum 14. Mal die Popkomm in Köln eröffnet, werden Fragen von Recht und Gesetz an der elektronischen Grenze das bestimmende Thema sein. Schon im vergangenen Jahr sorgte die Nachricht, dass weltweit erstmals mehr CD-Rohlinge verkauft worden waren als fertig bespielte Tonträger, auf den Foren der Messe für Popmusik und Entertainment für einen Grundsound der Zerknirschung, mit dem die Branche endgültig von den fetten Jahren Abschied nahm. Inzwischen sind mit Thomas Middelhoff (Bertelsmann) und Jean Marie Messier (Vivendi Universal) die zwei prominentesten Managervisionäre der Neunziger aus den Konzernspitzen herausgekegelt worden. Im Angesicht der Krise - die allerdings auch herbeigeredet ist, denn nie war das allgemeine, aber eben nicht rein kommerzielle Interesse an Musik größer - starrt man jetzt gebannt auf die anstehende Neuregelung des Copyrights: Bis Ende 2002, also sehr bald schon, müssen die EU-Staaten in nationales Recht umgesetzt haben, was in einer Folge internationaler Rahmenabkommen zur Regelung geistigen Eigentums in den Neunzigern formuliert wurde.
Nach Rock 'n' Roll klingt dies zunächst nicht - noch ein staubtrockener Gesetzesentwurf? Freilich geht es bei der Verrechtlichung des Terrains nicht bloß um ein paar verkaufte Tonträger mehr oder weniger. Das Erbe der digitalen Revolution selbst steht zur Disposition. Mit der Festlegung von Grenzverläufen, der Umwandlung zirkulierender Datensätze in individuelle Besitztümer sowie der verbindlichen Fixierung von Straftatbeständen wird für zukünftige Generationen definiert, welche Bereiche der Information frei zugänglich und welche warenförmig sein werden. Für eine Gesellschaft, die längst mehr Wissen produziert als Kaffee, Baumwolle oder Stahl, die einen neuen Bildungsnotstand heraufziehen sieht und sich von Pisa-Studien erschüttert zeigt, ist das von derart essenzieller Bedeutung, dass das Ausbleiben einer öffentlichen Debatte an Verdrängung grenzt.
Das Bundesjustizministerium, in dem der Regierungsentwurf (einsehbar unter www.bmj.de) erstellt wurde, scheint bis zum Ausgang der Wahlen auf jegliche Erregung von Aufmerksamkeit verzichten zu wollen. Die fonografische Industrie führt das Wohl der Künstler im Mund, die zu vertreten sie vorgibt - und klappert doch nur für ihre eigenen Interessen. Nicht einmal die Revolutionäre von einst protestieren lautstark. Neben dem Chaos Computer Club und anderen Unterzeichnern der Initiative Rettet die Privatkopie (www.privatkopie.net) gehört De:Bug, die Berliner Zeitschrift für "elektronische Lebensaspekte", zu den wenigen, die mögliche Folgen aus Nutzerperspektive an die Wand gemalt haben: Wenn die strafenden Aspekte der Richtlinie die schützenden überwögen, die Lobbyisten und wirtschaftsnahen Pressure-Groups hinter den Kulissen das letzte Wort behielten, wenn der fair use, also der geduldete Hausgebrauch von Daten, durch widersprüchliche beziehungsweise industriefreundliche Klauseln eingeschränkt würde, dann stünden die gestern noch als furchtlose Cyber-Pioniere gefeierten Elektronikbastler unter einer ständigen einschüchternden Bedrohung durch das Gesetz.
Herta Däubler-Gmelin hat zwar als zuständige Ministerin betont, es gehe ausschließlich um die Verfolgung "gewerblicher Rechtsverletzer", doch gerade in der zentralen und strittigen Frage der Privatkopie birgt der Text seine Paradoxien. Zunächst dehnt er die bislang gültige Regelung, nach der das Kopieren eines Buches oder das Mitschneiden eines Musikstücks ohne besondere Genehmigung erlaubt ist, auf "beliebige Träger" aus, also auch auf digitale Formate. Gleichzeitig aber stellt er Kopiersperren, mit denen Audio-CDs oder PC-Spiele immer häufiger vom Hersteller versehen werden, unter den ausdrücklichen Schutz des Rechts. Wer also von seinem Recht auf die Privatkopie Gebrauch macht und den Kopierschutz umgeht, bewegt sich in einer juristischen Grauzone. Bei konsequenter Auslegung kommt das einer Stärkung der Medienindustrie gleich, die auch bei so genannten Streaming-Verfahren im Vorteil ist: Hier "tankt" der Kunde Musik oder Information als Datensatz direkt aus dem Netz - und zahlt dafür jedes Mal neu.
Nun ist der Entwurf zunächst ein Entwurf, der Bundesrat wie Bundestag passieren muss und zudem noch nichts über die konkrete Handhabung aussagt. Bislang orientiert sich das Befürchtungsszenario an den Auswirkungen der seit 1998 bestehenden amerikanischen Regelung, pathetisch Digital Millennium Copyright Act genannt, und auch dort liegt der unterhaltungsindustrielle Komplex noch im Kampf mit einzelnen Codeknackern und Webdesignern, die ihre Sache durch die Instanzen verfolgen oder sogar Gegenklagen anstreben. In der Anwendung des Gesetzestextes hat sich also noch keine gängige Rechtspraxis gebildet. Fragen der Durchsetzbarkeit schließen sich an: Kann die Kriminalisierung von Einzelpersonen illegale Downloads wirklich dauerhaft verhindern? Und auf welcher technischen Basis will man künftige Übertretungen verhindern? Vor aller Festschreibung qua Gesetz aber müsste die Gesellschaft sich erst einmal selbst darüber verständigen, welchen Umgang mit Wissen sie für wünschenswert hält, wo sie die Interessen der menschlichen Kulturgemeinschaft an freier Information gewahrt sehen und wo sie die Rechte der Urheber schützen will.
Was Versuche anbelangt, das Internet dauerhaft unter Kontrolle zu bringen - und nichts anderes wäre eine komplett durchgesetzte Regulierung im Sinne der Eigentumsindustrie -, ist Paranoia im User-Lager am wenigsten angebracht. Die latente Anarchie des Netzes gehört nicht zu seinen mythischen, sondern zu seinen realen Eigenschaften und liegt im dezentralen Charakter des Mediums begründet. Wie wenig mit Schauprozessen letztlich zu erreichen ist, hat die zur Jahrtausendwende geführte Schlacht um die Internet-Börsen gezeigt: Kaum war Napster aufgekauft, boten Wrapster, Hackster, Gnutella oder Morpheus dieselbe Funktion (oft noch effektiver) an und ließen die Copyright-Befürworter, die Heavy-Metal-Band Metallica etwa, mit beträchtlichen Imageschäden zurück. Was technisch zu verschlüsseln ist, ist technisch eben auch wieder zu entschlüsseln, sodass zugleich sämtliche Versuche, CDs mit elektronischen Kopiersperren zu versehen, durchschlagend wirkungslos geblieben sind. Ein Ende der Entwicklung ist nicht abzusehen, im Gegenteil: Der Ringtausch kompletter Spielfilme im Netz ist nur eine Frage der Datenkomprimierung und kommt so sicher wie die nächste Computergeneration.
Jeder ist ein kleiner Hacker
Dass das Knacken von Codes als lustvoller Akt empfunden wird, ja etwas Sportives hat, liegt freilich auch an der Strahlkraft des Hacker-Mythos. Im Hacker treten verschiedene Züge technokulturellen Abenteurertums zusammen. Ein Rest Rock 'n' Roll steckt in seiner subversiven Handhabung des Keyboards: Einen Großkonzern (oder gar das Pentagon) mit ein paar Tastenbewegungen als tumben Riesen zu entlarven, das öffnet dem Rebellentum ein letztes Türchen in ansonsten unheroischer Zeit. Als Künstlerfigur ist der Hacker ein Avantgardist, der unerschrocken ins Datenall aufbricht; bis heute eilen sein Sachverstand und Erfindungsreichtum den Versuchen, juristische Handhaben dafür zu definieren, voraus. Dass ihm auch räuberische Züge nicht fremd sind, sein Tatendrang bei der Eroberung der neuesten Welt den Cyber-Unternehmer vorwegnimmt - auch das lässt sich am Fall Napster studieren: In Windeseile mutierten die Betreiber Shawn Fanning und Sean Parker zu kapitalistischen Musterknaben. Beim ersten Auftauchen des Firmenzeichens freilich überwog die Blendung: So viel Spitzohrigkeit im Logo kann nur der Aufrechte führen.
Mag mit dem Heldenzeitalter des Internet auch die Hacker-Legende folkloristisch verblasst sein, der Einfluss des Mythos auf die elektronische Alltagskultur beginnt sich gerade erst abzuzeichnen. Jeder ist ein wenig Hacker, wenn er per Mausklick durchs Netz navigiert, die Ebenen wechselt, hier einen unvermuteten Fund macht und dort eine Information aufgabelt, für die in den meisten Fällen nichts bezahlt wird. Verfügbarkeit von Wissen ist zu einem Lebensstil geworden, der um sich greift, je mehr Arbeits- und Freizeit am Computer zugebracht wird, in elektronischen Bibliotheken, Chatrooms, mit Spielen: Alles fließt mit dem information flow. Die Kommunikation, das Wirtschaften, der Journalismus, die Musik, das Reisen, selbst die Erotik haben sich dadurch irreversibel verändert, und wer in diesen Zeiten der Datenströme, an die man sich an- und wieder abkoppelt, besitzbaren Kulturgütern nachhängt, steht als heilloser Romantiker da. Was mehr und mehr zählt, ist access: Das von Jeremy Rifkin ausgerufene Zeitalter einer Erlebnisökonomie, in der nicht das (materielle) Produkt gefragt ist, sondern der Zugang dazu, hat bereits begonnen.
In welchem Maße diese Ökonomie warenförmig sein wird, steht zur Verhandlung. Was die Eigentumsindustrie will, ist klar: die Kulturtankstelle, an der man sich das Gewünschte gegen eine Gebühr aus dem Netz herunterlädt, strikt unter der Kontrolle der großen Anbieter (eben erst hat Universal unter dem Namen popfile.de einen weiteren Prototyp lanciert). Auf der Gegenseite ist gerade durch die Omnipräsenz von Information das Bewusstsein dafür gewachsen, dass Wissen ein besonderes Gut ist. Wird es etwa weniger durch seine Aneignung? Ist die soziale Funktion nicht höher anzusetzen als der Eigentumsvorbehalt? Hat man je von einer Mutter gehört, die für das Märchen, das sie ihrem Kind erzählt, bezahlen muss? Und ist der freie Austausch nicht geradezu die Voraussetzung von Wissenschaft? So naiv sind diese Fragen nicht. In den Kulturgeschichten des Urheberrechts ist nachzulesen, dass es sich bei der Idee, Information gehöre einem Einzelnen und nicht vielmehr der Gemeinschaft, um eine Erfindung des Gutenberg-Zeitalters handelt, die sich zudem in Abhängigkeit von medientechnischen Entwicklungen verändert.
Landschaften des Wissens
Bereits Schallplatte, Radio und Tonband haben an der Einzigartigkeit des Kunstwerks genagt und kollektivistische Vorstellungen beflügelt. Zu Beginn des dritten Jahrtausends, im Zustand elektronischer Vergesellschaftung, nähert die Wahrnehmung von Datenflüssen und digitalen Artefakten sich wieder dem Naturzustand an: Man empfindet sie als etwas, das einfach da ist, wie das Wasser oder die Luft zum atmen.
Ganz in diesem Sinne hat der Medienforscher Volker Grassmuck für einen Schutz der informationellen Umwelt plädiert, wie er zuerst von dem amerikanischen Rechtsgelehrten James Boyle ins Spiel gebracht worden ist. A Politics Of Intellectual Property: Environmentalism For The Net? heißt dessen mittlerweile klassischer Aufsatz, in dem die Grundrisse einer geistigen Ökologie entworfen werden: Schaffung eines Bewusstseins für die neu entstandene Landschaft des Wissens, Beibehaltung von kollektiv genutzten Gebieten nach dem Vorbild der mittelalterlichen Allmende, Verpflichtung der Politik auf die Schaffung gemeinnütziger Rahmenbedingungen. Möglich, dass mit einer solchen Regelung nicht jeder Rechtebesitzer zufrieden sein könnte, sicher, dass die Datenherren dagegen Sturm laufen werden, wahrscheinlich, dass Herta Däubler-Gmelin und ihre Mannschaft, so sie im Herbst noch zuständig sind, gänzlich anderes im Blick haben: Umweltschutz im Netz - ein Horror für realpolitischen Pragmatismus, der zuallererst auf "Machbarkeit" pocht.
Doch gerade die Praxis von täglich rund 400 Millionen Nutzern weist in Boyles Richtung, und wie alles, was an Werkzeug aus der utopischen Phase des Netzes herübergerettet wurde, sind auch diese Vorschläge zur Weiterentwicklung freigegeben. Noch ist die Eigentumsfrage im Informationszeitalter nicht vollständig entschieden. Gottvertrauen in die Gemeinnützigkeit des Marktes wäre der schlechteste Berater im Kampf um die künftige Ordnung des Wissens.
(c) DIE ZEIT 34/2002
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