Digital ist ganz egal
Warum die technische Revolution des Fernsehens ausbleiben wird
Von Jürgen Krönig
Die Zukunft des Fernsehens sei digital, verkünden Politiker, Industrie und Medien seit Jahren. Die Botschaft ist schön - und falsch. Überall in Europa sind die Träume einer digitalen Welt dahin, die das neue Fernsehen zu den Menschen bringen sollte. Das Imperium von Leo Kirch kollabierte vor allem wegen des digitalen Bezahlsenders Premiere, der nicht genug Abonnenten fand. Auch in Frankreich kommen die digitalen Fernsehprogramme nicht recht an. Und BSkyB, der mit vielen Senderechten aufgerüstete Vorzeigesender des Medienunternehmers Rupert Murdoch, macht Milliardenverluste in Großbritannien. Grund: Die knapp sechs Millionen BSkyB-Abonennten wollten für die Umstellung auf digitale Übertragung nicht bezahlen. Der Sender musste die neuen Dekoder kostenlos an seine Zuschauer verteilen. Ins digitale Fernsehen wurden dieselben Hoffnungen gesetzt wie in Internet-Geschäfte oder die Breitbandkabel für den Datenverkehr. Bei jeder dieser Innovationen standen am Beginn überzogene Erwartungen über das wirtschaftliche Potenzial; die gleichen, durch einseitige Studien nur scheinbar belegten Prognosen über die Bereitschaft des Publikums, sich auf neue Informationsangebote, Geräte und Formate einzulassen; der falsche Glaube an die Unabänderlichkeit und den Segen des technologischen Fortschritts. Am Ende standen jedes Mal Enttäuschungen und Pleiten.
Gefeiert wird trotzdem. Zum Beispiel im Februar, als Intendanten und Medienfürsten zusammenkamen, um wieder einmal eine neue Ära auszurufen. Anlass: das Ende des analogen Antennenfernsehens in Berlin und Potsdam 2003. Doch die großen Worte waren unangebracht. Lediglich sieben von hundert Haushalten empfangen dort die Tagesthemen, den Musikantenstadl oder die Werbeblöcke per digitale Technik. Die restlichen 93 Prozent werden auch künftig noch analog versorgt - nur eben über Kabel und Satellit.
Erst vor eineinhalb Jahren hatte Wirtschaftsminister Werner Müller kund getan, Deutschland wolle auf dem Weg in die digitale Informationsgesellschaft die Nummer eins werden. Überall in Europa haben sich die Regierungen zur baldigen Abschaltung der analogen Fernsehsignale und zum digitalen Neubeginn verpflichtet. Italien möchte schon im Jahr 2007 so weit sein, Deutschland, Frankreich und Großbritannien spätestens 2010. Die Regierenden wollen damit dem Fortschritt dienen, von dem sie Wunder erhoffen. Keiner hat das so blumig ausgedrückt wie der britische Premierminister Tony Blair, der von der digitalen Revolution "höheres Wachstum, größere Produktivität, bessere öffentliche Dienstleistungen und eine revolutionäre Veränderung vieler Aspekte unseres Lebens" erwartet. Offenbar hat er nicht mitbekommen, welches Chaos technische Umrüstungen in britischen Ministerien noch jedes Mal angerichtet haben.
Es ist das Geld, das die Regierenden lockt. Bei einer Umstellung könnten die frei werdenden TV-Frequenzen versteigert werden wie vor kurzem die UMTS-Lizenzen für den Mobilfunk. Rund 45 Milliarden Euro spülte diese Versteigerung allein in die deutsche Staatskasse. Bloß ist weit und breit keine Dienstleistung in Sicht, die das Geschäft mit den UMTS-Geräten profitabel machen könnte. Nun sollen womöglich Pornos für das Mini-Display neue Kunden bringen.
Für das digitale Fernsehen heißt das: Keine Regierung darf jetzt noch mit einem dicken Reibach rechnen, würde das analoge TV-Signal tatsächlich abgeschaltet.
Skepsis gegenüber dem digitalen Fernsehen ist allein schon aus technischen Gründen geboten. Man kann die Propagandisten des neuen Fernsehens schon gar nicht mehr hören: Digital übertragene Programme böten gestochen scharfe Bilder, mehr Kanäle und die viel gepriesene Interaktivität, jubeln sie. Nicht einmal das Argument besserer Bilder stimmt, solange es technisch nicht gelingt, sie am Laufen zu halten - derzeit frieren digital übertragene Bilder immer wieder ein. Premiere-Abonnenten in Deutschland wissen zudem, dass die Digitalprogramme nur kompliziert zu handhaben sind.
Nicht umsonst gilt der Dekoder als langsamster Computer der Welt. Man kann nicht einmal ein Programm sehen und gleichzeitig per Videorekorder ein anderes aufzeichnen. Auf dem Fernseher im Kinderzimmer kann nur das gleiche Programm wie im Wohnzimmer laufen. Wenn die Eltern also Nachrichten sehen wollen, die Kinder aber zur gleichen Zeit einen Zeichentrickfilm, braucht man schon zwei Dekoder. Oder neue, teure Fernsehapparate. Am Ende des analogen Zeitalters müssten daher Millionen intakter Fernseher, Videorekorder und Radios auf den Müll wandern, sollten sich deren Besitzer nicht gleich mit mehreren Digitaldekodern eindecken.
Derart kundenfeindlich zu sein verrät ein erstaunliches Maß an Weltfremdheit. Medienpolitiker, Ingenieure und Designer berauschten sich in ihrer Planung an dem, was die tolle Technik alles möglich macht. Menschliche Gewohnheiten ignorierten sie - ein Fall für den Verbraucherschutz.
Vor allem aber: Fernsehen bleibt eine passive Tätigkeit. Viele Menschen wollen Zuschauer bleiben. Sie wollen sich vom Fernsehen unterhalten lassen und nicht, Knöpfe drückend, interaktiv herumturnen. Beim Fußball zum Beispiel liefert der Regisseur schon heute das beste Bild samt blitzschneller Wiederholung von Toren und Fouls. Wer die Kameraeinstellungen selbst wählen darf, hinkt bloß dem Geschehen hinterher und verpasst zwangsläufig einen Teil der Ereignisse auf dem Rasen, weil man auf das Menü starren und mit beiden Händen Knöpfe bedienen muss.
Kurt Beck, der Ministerpräsident von Rheinland Pfalz, wollte bedürftigen Bundesbürgern die Dekoder sogar gratis bescheren. Eine Art Grundrecht auf Digitalfernsehen. Dabei gibt es überall in Europa signifikante Minderheiten, die sich nicht mit der Verheißung auf noch mehr Fernsehkanäle locken lassen. Sie argwöhnen mit Recht: Gemeint sind nur mehr schlechte Programme. Selbst wer heute schon bis zu fünfzig Kanäle empfangen kann, beschränkt sich meist auf sechs bis zehn und ignoriert den Rest. Das ist eine Tatsache.
Man sollte den Propheten des technologischen Fortschrittes künftig auf die Finger schauen, ihren Einfluss auf dem Mediensektor beschneiden und ihre Prognosen kritischer hinterfragen. Die Verbraucher werden sich von Politikern und Medienunternehmen nicht ins digitale Zeitalter hineinschubsen lassen.
Ganz sicher werden wir im Jahr 2010 nicht das Ende der analogen Technik erleben. Vielleicht kommt es nie.
(c) DIE ZEIT 20/2002 www.zeit.de
|