Schöner flimmern
Zwanzig Jahre nach dem Privatfernsehen kommt das digitale TV – und kaum einer merkt’s
Von Marc Dusseldorp
Privates Fernsehen sei gefährlicher als die Kernenergie, wetterte der Bundeskanzler. Auch die Mitglieder seiner Regierungskoalition warnten: Die Grundstrukturen der demokratischen Gesellschaft seien gefährdet, die Meinungsvielfalt stünde auf dem Spiel, der Familie drohe Schaden durch Reizüberflutung. Das Privatfernsehen kam trotzdem: genau vor 20 Jahren. Der Start des Kabelpilotprojekts Ludwigshafen am 16. Juli 1982 legte dazu den Grundstein, denn erst die Kabeltechnik machte es möglich, mehr Programme als nur Erstes, Zweites und ein Drittes in die deutschen Haushalte zu übertragen.
Zwanzig Jahre später ist wieder Wahlkampf, der Kanzler heißt nicht mehr Helmut Schmidt, sondern Gerhard Schröder, und ein neuer Quantensprung in der Fernsehtechnik steht unmittelbar bevor. Doch das „Digitale Fernsehen“ löst keine breite öffentliche Diskussion aus und taugt erst recht nicht als Wahlkampfthema. „Ich vermute, dass dieser Begriff in der Bevölkerung kaum verstanden ist“ sagt Peter Zoche vom Fraunhofer-Institut für Innovationsforschung in Karlsruhe. Dabei hat sich die Digitaltechnik hierzulande längst in die Welt des Fernsehens eingeschlichen: Bereits Anfang der 90er-Jahre war der Pay-TV-Kanal Premiere digital über Kabel zu empfangen, wenige Jahre später sendeten Satelliten ein digitales Fernsehangebot zur Erde, Pilotprojekte zum digitalen terrestrischen Fernsehen folgten.
„Ich fürchte, das wird überhaupt nicht bemerkt“, sagt Knut Hickethier, Medienwissenschaftler von der Universität Hamburg. „Erst, wenn etwas abgeschaltet wird, wird sich das ändern.“ Das ist bald soweit: Noch im Herbst dieses Jahres wird RTL2 aus dem analogen Fernsehen des Ballungsraums Berlin-Brandenburg verschwinden, ein Jahr später wird dort überhaupt kein analoger Kanal mehr zu empfangen sein. Die Hauptstadtregion spielt dabei eine Vorreiterrolle: Bis 2010, so will es eine Initiative der Bundesregierung mit Programmanbietern und Geräteherstellern, wird der gesamte deutsche Fernsehrundfunk auf digitalen Sendebetrieb umgestellt sein; der Hörfunk soll bis 2015 nachziehen.
Mit Kindern im Studio wetteifern
Dann spätestens sollten sich Fernsehfreunde mit der neuen Technik vertraut gemacht haben, denn ohne einen Decoder – die so genannte Set-Top-Box – läuft sonst gar nichts mehr. Der Decoder wandelt die digitalen Signale von Kabel, Satellitenschüssel oder Antenne in für das Fernsehgerät „verständliche“ analoge Signale um; so können dann auch alte Geräte weiterverwendet werden. Knapp 200 Euro sollen die Decoder kosten, versichern die Hersteller. Sonstige Zusatzkosten werden für frei empfangbare Programme nicht anfallen: „Die üblichen Rundfunkgebühren werden beim digitalen Fernsehen nicht teurer“, sagt Claudia Liss vom Institut für Nachrichtentechnik der Technischen Universität Braunschweig, „die Umstellung wird jetzt schon über die GEZ finanziert, ohne dass Sie es merken.“
Genießen sollen die Fernsehzuschauer dann zahlreiche Vorteile:
bessere Bildqualität, weil bei Übertragungsstörungen eine digitale Fehlerkorrektur das Bild rekonstruiert ;
mehr Programme, da die knappe Ressource der geeigneten Frequenzen besser genutzt werden kann: Sechs bis zehn digitale Kanäle lassen sich dank der Komprimierung von Bilddaten an Stelle eines einzigen analogen Kanals übertragen;
die direkte Beteiligung des Zuschauers, der in das Geschehen am Bildschirm eingreifen kann: „Kinder können dann zum Beispiel bei der Sendung 1,2 oder 3 mit ihren Altersgenossen im Studio wetteifern“, sagt Ulrich Reimers, Professor für Nachrichtentechnik in Braunschweig. Technisch möglich ist es auch, über den Beginn der Sendung vom Fernsehsessel aus zu entscheiden, Filme für die Toilettenpause zu unterbrechen – das Fernsehen mutiert dann zu einer Videothek mit Fernzugriff.
Reimers ist als einer der Mitbegründer der internationalen Initiative Digital Video Broadcasting (DVB, Digitaler Fernseh-Rundfunk) maßgeblich an dessen Entwicklung beteiligt: Die rund 300 Mitglieder haben die Standards entwickelt, die die breite Nutzung der Digitaltechnik erst ermöglichen. Denn auch wenn Sende- und Empfangstechnik schon reif sind, muss dafür gesorgt werden, dass alle beteiligten Geräte die gleiche Sprache sprechen – dies werden fast auf der ganzen Welt die DVB- Standards sein.
Zuletzt stellte die Initiative ihren Standard Multimedia Home Platform vor (SZ, 28.8.2001). Decoder-Programme, die dieser Norm folgen, dürften die Bildschirmoberfläche so umgestalten, dass sie einem Internet-Browser ähnelt. Per Fernbedienung lassen sich Zusatzinformationen zu laufenden Sendungen abrufen oder die integrierte digitale Programmzeitschrift nutzen. In der Vorbereitung ist noch das Projekt TV anywhere: Eine bleistiftgroße Stabantenne wird reichen, digitale Signale zu empfangen, die von Fernsehantennen ausgestrahlt werden. Am Notebook oder auf ihrem Handy können die Zuschauer dann überall Sportwettkämpfe, Soaps und Nachrichten verfolgen. „Daran arbeiten wir zur Zeit“, sagt Reimers.
Auch die Berliner Konsumenten werden ihre Gewohnheiten aber nur langsam ändern müssen, denn ein Großteil der neuen Anwendungen wird noch auf sich warten lassen. Für ein interaktives Programm ist zum Beispiel ein Rückkanal nötig, der Daten vom Wohnzimmer zum Anbieter überträgt – entweder per Kabel oder über eines der Telefonnetze. Er dürfte das Fernsehen ebenso verteuern wie Abonnements der zu erwartenden Bezahl-Sender.
Auch deshalb ist bisher unklar, wie das neue Fernsehen beim Zuschauer ankommt. „Soweit ich weiß, ist noch keine Studie zur Akzeptanz des digitalen Fernsehens abgeschlossen“, sagt Peter Zoche. Sein Hamburger Kollege Knut Hicke thier erinnert an die Einführung des Kabelfernsehens vor 20 Jahren: Damals sei die erste Reaktion der Zuschauer äußerst verhalten gewesen: „Die Vorgaben bei den Pilotprojekten wurden bei weitem nicht erreicht.“
Dieses Schicksal steht dem digitalen Fernsehen zumindest nicht bevor: Es kommt, ob nun jemand mitmacht oder nicht. Vielleicht ist auch das einer der Gründe, weshalb kaum über das Projekt diskutiert wird.
Einsam wacht der Techniker, hier bei Premiere, über ein Programm, auf das die Zuschauer größeren Einfluss gewinnen. Denn digitale Technik ermöglicht mehr Wahlmöglichkeiten als um- oder auszuschalten.
Quelle: Süddeutsche Zeitung
@Digitales Fernsehen: www.dvb. org; www.tv-plattform.de; www.lmsaar.de/technik/dvb/digtv.htm
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